Deine Problempunkte habe ich durchaus gelesen. Diese werden aber vom "großen Rest" Deines Beitrages meiner Wahrnehmung nach überstrahlt.
Du hast leider recht.
Zu meiner Verteidigung: Ich hatte kürzlich IRL eine Diskussion mit einem - meiner Wahrnehmung nach - ähnlich naiven Vertreter des ganz weit linken Lagers, dessen Argumentation auch im Wesentlichen darauf beruhte, dass nur erst einmal die richtige Weltanschauung durchgesetzt sein müsste, dann würde das Gute im Menschen von sich aus obsiegen und sich alle Alltagsprobleme von allein erledigen. Die Genervtheit darüber ist zugegebenermaßen stark in meinen Rant eingeflossen.
Um es wieder zu versachlichen: Es ist an sich unerheblich und von der Weltanschauung unerheblich, wen welche Gemeinschaftsform mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut. Ob nun Nachbarschaftswache, Bürgerwehr oder eben eine Polizei, sind immer Institutionen bestehend aus Einzelpersonen, die je nach Größe und Zusammensetzung und Wirkbereich sehr unterschiedliche Vor- und Nachteile haben und als Machtausübende (egal wie viel und egal wie lange) eine gewisse Kontrolle durch die Gemeinschaft brauchen. Wenn man das gründlich betreibt, funktioniert allerdings meines Erachtens jede Intitution.
Sicherlich kann eine Nachbarschaftswache sicherlich in vielen Dingen anders und menschlicher agieren. Wenn Erwin aus dem dritten Stock mal wieder eine über den Durst getrunken hat und im Hof randaliert, können Erna und Manfred auf Nachbarschaftspatrouille ihn viel persönlicher und menschlicher zur Ordnung rufen und womöglich auch eher organisieren, dass die nähere Gemeinschaft ein Auge auf seinen Alkoholkonsum hat.
Jedoch einmal davon abgesehen, dass so etwas auch in das Schreckgespenst totaler Überwachung von jedem durch jeden ausarten kann - was passiert eigentlich, wenn Erwins Tobsucht nicht mehr persönlich und menschlich zu bändigen ist und es um das Wohlergehen Dritter oder gar um Leben und Tod geht?
Sind Erna und Manfred von der Nachbarschaftswache tatsächlich kompetent, um mit jeder Situation umzugehen? Was sind die Implikationen, wenn sie Erwin gewähren lassen müssen, oder Erwin etwas robuster anpacken müssen oder gar von Erwin verdroschen werden?
Egal welcher Ausgang, es dürfte die Verhältnisse in der Nachbarschaft verkomplizieren - anders als wenn neutrale Personen einschreiten, die anzunehmenderweise keine persönlichen Beziehungen zu irgend einem der Beteiligten haben, die dadurch belastet werden oder von vornherein das Handeln bestimmen könnten. Erwins Busenkumpel oder Bruder auf Nachbarschaftswache könnten beispielsweise doch etwas anders agieren als Erwins Nachbarn ein paar Aufgänge weiter, die nur seine gelegentlichen nächtlichen Brüllorgien kennen.
Oder was ist, wenn Erwins kleiner Amoklauf in den Wirkbereich einer anderen Nachbarschaft übergeht? Wer ist da zuständig und in welchem Umfang? Dürfen Kevin und Zoe tätig werden, wenn Erwin - kombinieren wir die Problemfelder mal ein wenig - ausgerechnet deren Fahrräder kaputt tritt, während sie selbst zufällig auf Patrouille sind? Oder muss das Eingreifen erst mit Erna und Manfred abgesprochen werden, nachdem Kevin und Zoe hoffentlich abeklärt genug sind, die Zerstörung ihrer Fahrräder genau so neutral zu sehen wie die Zerstörung irgendwelcher Fahrräder?
Da das Ganze in der idealen, nahezu eigentumslosen Gesellschaft stattfindet, mag es ja sein, dass es *eigentlich* gar nicht Kevins und Zoes Fahrräder sind, die Erwin beschädigt, sondern es sich dabei quasi um Volkseigentum handelt. Nichtsdestotrotz könnte es Kevin und Zoe anpiepen, dass sie nun neue Fahrräder beantragen müssen und allerlei Scherereien haben, die nun einmal auftreten, wenn die ideale sozialistische Gesellschaft nicht zufällig auch ein Schlaraffenland ist, in welchem den *trotzdem* fleißig Werktätigen alles Benötigte sofort zufliegt.
Utopien sind etwas Schönes, aber man darf nicht vergessen, dass sie vor allem eine Denkhilfe sind. Man konstruiert ein ideales Ziel, um den Weg dahin gedanklich nachspielen zu können und stößt auf diesem Weg auf Sachverhalte, die dazu zwingen, andere Abzweigungen zu nehmen oder sogar das Idealziel zu modifizieren.
Das hat die Autorin des zitierten Artikels meines Erachtens unterlassen.