Gerhard Mangott, Professor für internationale Beziehungen mit dem Schwerpunkt Osteuropa und Russland an der Universität Innsbruck, erklärt im Interview mit BR24, inwieweit die nuklearen Drohungen zu verstehen sind und welche Konsequenzen ein russischer Einsatz von Atomwaffen haben könnte.
Dominic Possoch: Wie wahrscheinlich ist es, dass Putin wirklich auf Atomwaffen zurückgreift?
Gerhard Mangott: Derzeit ist es nicht sehr wahrscheinlich. Aber durch die militärischen Ereignisse in der Ukraine werden diese Möglichkeiten eines Einsatzes von Nuklearwaffen wahrscheinlicher. Denn wenn es der Ukraine gelingt, weitere erfolgreiche Gegenoffensiven durchzuführen sowie erobertes Gebiet von Russland zurückzuerobern und Russland Gefahr läuft, in eine desaströse Kriegsniederlage zu schlittern, dann ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit gegeben, dass zumindest mit taktischen Nuklearwaffen gedroht wird und solche Waffen letztlich dann auch eingesetzt werden, um die ukrainische Führung davon abzubringen, weiter militärisch vorzustoßen. Und um westliche Regierungen zum Einknicken zu bringen, keine weiteren Waffen an die Ukraine zu liefern.
Atomwaffen-Einsatz: Kein militärischer Nutzen
Possoch: Ist der Einsatz von taktischen Atomwaffen aus einem militärisch-strategischen Gesichtspunkt überhaupt sinnvoll?
Mangott: Einen direkten militärischen Nutzen gibt es zweifellos nicht. Die implizite Drohung mit dem Einsatz solcher Waffen soll aber jetzt schon Angst und Unsicherheit erzeugen, sowohl in den Bevölkerungen des Westens als auch bei manchen Regierungen in Westeuropa. Ich denke da vor allem an die deutsche Regierung, vor allem an die SPD, wo der Eindruck verstärkt werden soll, dass weitere Waffenlieferungen, etwa die Lieferungen von Kampfpanzern und Schützenpanzern, ein derartiges Eskalationsrisiko mit sich bringen, dass eine solche Lieferung aus der Sicht von Bundeskanzler Scholz unterbleiben muss.
Was die Androhung mit der Detonation von taktischen Nuklearwaffen und deren mögliche Durchführung anbelangt, so hat dies nicht so wirklich einen unmittelbaren militärischen Effekt an der Frontlinie. Viel mehr soll mit einer demonstrativen Detonation oder dann auch der Explosion einer solchen Waffe über ukrainischem Gebiet die ukrainische Führung dazu bewogen werden, ihre militärische Offensive zu stoppen und sich bereit zu erklären, mit Russland einen Verhandlungsfrieden zu schließen, der russischen Interessen entgegenkommt.
"Russland wäre global ein Aussätziger"
Possoch: Wäre die internationale Reaktion auf einen solchen nuklearen Einsatz für Russland nicht verheerend?
Mangott: Das ist tatsächlich ein Faktor, der dagegenspricht, dass dieser Einsatz wirklich erfolgen wird. Derzeit ist Russland vom Westen isoliert, aber nicht global isoliert. Wenn Russland jedoch das seit 1945 bestehende nukleare Tabu brechen sollte, dann wird Russland auch global isoliert werden. Dann ist Russland global ein Aussätziger und selbst ein sehr enger Verbündeter wie China wird das sicherlich verurteilen und von Russland abrücken, von Indien ganz zu schweigen. Also das ist ein sehr großes politisches Risiko.
Militärische Reaktion der USA bei Atomwaffen-Einsatz
Possoch: Würde man nicht auch auf militärischer Ebene viel riskieren?
Mangott: Sollte sich die russische Seite zu einem solchen Verzweiflungsschritt durchringen, haben die USA schon deutlich gemacht, dass sie auf den Einsatz einer solchen Waffe reagieren werden. Gemutmaßt wird, nicht auch mit einer nuklearen Detonation, sondern konventionell. Das heißt, dass mit amerikanischen Präzisionsraketen Basen getroffen werden, von denen solche taktischen Nuklearwaffen mit Kurz- und Mittelstreckenraketen abgefeuert wurden. Es geht sogar so weit, dass man in Washington diskutiert, dass man auch direkt die Kommandozentralen der russischen Armee in der Ukraine angreifen und so die konventionelle Schlagkraft Russlands deutlich gefährden wird. Das ist eine militärische Risikolage für Wladimir Putin. Das Problem bei allem ist nur, niemand kann eine solche Situation dann wirklich kontrollieren. Eine Eskalationskontrolle gibt es dann von beiden Seiten nicht.
Putin will "Angst und Unsicherheit erzeugen"
Possoch: Die Kosten wären für Wladimir Putin enorm. Fallen wir also gerade auf Putin rein, wenn er wieder einmal von Atomwaffen spricht und wir hier Panik kriegen?
Mangott: Es ist durchaus möglich, dass dieses Gerede von Nuklearwaffen ausschließlich diesem Zweck dient, Angst und Unsicherheit zu erzeugen und eben den Westen zu spalten. Also eine Spaltung zwischen denen, die sagen, wir dürfen uns von solchen Äußerungen nicht abschrecken lassen und müssen die Ukraine weiter unterstützen, und anderen. Ich denke eben an Bundeskanzler Scholz, der meint, man müsse immer Eskalationsrisiken bedenken bei dem, was man an Waffen liefert. Das ist vielleicht schon der primäre und derzeitig ausschließliche Zweck solcher Andeutungen. Aber es kann auch darüber hinausgehen, nämlich dass es bei einer demonstrativen Detonation einer solchen Nuklearwaffe dann zwischen verschiedenen westlichen Regierungen wirklich zu einem Bruch kommt. Und das wäre auch schon im Sinne hat der russischen Seite.
Possoch: Das heißt, der Westen sollte sich auf keinen Fall von Putin einschüchtern lassen?
Mangott: Es ist durchaus legitim, aus der Sorge um Eskalationsrisiken bei Waffenlieferungen bedacht vorzugehen. Aber auf der anderen Seite muss man sagen: Wenn Putin das wirklich ernst meint und nicht nur Angst und Unsicherheit sähen will, dann würde eine verlangsamte, geringere Unterstützung der Ukraine bedeuten, dass ein Nuklearwaffenstaat ungestraft einen Völkerrechtsbruch begehen kann, Kriege führen kann, Annexionen durchführen kann. Jeder andere Nuklearstaat würde dann diesem Präzedenzfall folgen, wenn man, weil Russland mit dem Einsatz von Nuklearwaffen droht, Russland entgegenkommt, um eine nukleare Eskalation zu vermeiden. Es ist also eine Güterabwägung für die Politik: Einerseits die berechtigte Sorge um mögliche Eskalationsrisiken. Andererseits aber eben auch eine Abwägung mit dem Argument, dass man damit von einem Nuklearstaat erpressbar ist und das eben Schule machen könnte.
Nato-Bündnisfall bei Nuklearwaffen-Einsatz?
Possoch: Für den Fall, dass es tatsächlich zu einem nuklearen Einsatz kommt. Würde am Ende - unter der Voraussetzung, dass die USA militärisch antworten - ein Nato-Bündnisfall eintreten?
Mangott: Manche erwarten das, manche wünschen sich das. Aber wenn Russland eine solche Nuklearwaffe oder auch mehrere davon über ukrainischem Gebiet detonieren lässt, mit all den Zerstörungen, die das auslöst, entsteht daraus für die Nato noch kein Bündnisfall, weil ja kein Nato-Mitglied angegriffen worden ist und weil die Ukraine eben nicht Nato-Mitglied ist. Das Problem ist aber tatsächlich, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass die USA militärisch reagieren werden. Und das könnte zu einer noch schärferen russischen Gegenreaktion führen, mit Angriffen auf einen Nato-Staat etwa. Und dann weiß wirklich niemand mehr, wo diese Eskalation enden wird beziehungsweise ob diese Eskalation noch eingedämmt werden kann.
Kein Konsens in russischer Führung über Nuklearwaffeneinsatz
Possoch: Wenn es sich jetzt verdichten sollte, dass Wladimir Putin tatsächlich ernsthaft beabsichtigt, Atomwaffen einzusetzen. Gäbe es dann die Möglichkeit, Putin noch aufzuhalten?
Mangott: Die Frage führt zu einem weiteren, diesmal innenpolitischen Risiko für Putin. Es ist zwar so, dass wir vermuten, dass über den Einsatz von Nuklearwaffen ausschließlich der Präsident Putin selbst entscheidet. Es gibt aber auch Annahmen, dass das konsensual in einem kleinen, engen Elitenkreis passieren wird. Und da war es schon auffällig, dass Putin angedeutet hat, alle möglichen Waffen, die zur Verfügung stehen, einzusetzen, wenn die territoriale Integrität Russlands in Gefahr sei. Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu sagte allerdings nachher, entgegen den geltenden Bestimmungen der russischen Nukleardoktrin: Nein, Russland wird Nuklearwaffen nur dann einsetzen, wenn Nuklearwaffen vorher gegen Russland eingesetzt worden sind. Also das zeigt schon eine gewisse Spaltung in der Führung. Es besteht da offensichtlich kein Konsens, wie sich das dann in einer konkreten Entscheidungssituation auswirken würde, darüber können wir nur spekulieren.
Possoch: Danke für das Gespräch.