Ich mein klar, wenn jemand da Schei*e gebaut hat gehört er bestraft, keine Frage. Aber bei jedem anderen Fall muss die Schuld des Angeklagten bewiesen werden, nur bei sexuellen Delikten scheint jeder sofort von der Schuld auszugehen und der Angeklagte hat schon verloren ohne dass irgendwelche Fakten auf dem Tisch liegen.
Die meisten Menschen tendieren bei derartigen Berichten grundsätzlich dazu, den komplizierten, unklaren Sachverhalt möglichst schnell in irgendwelche Schubladen zu packen, und da anfangs gewöhnlich keine Details bekanntgegeben werden, geschieht das gern anhand weniger, abstrakter Faktoren (wie Geschlecht, Alter, Nationalität und Milieu der Beteiligten). Dass ausgerechnet Sexualdelikte so anfällig dafür sind, erkläre ich mir durch die potentiell hohen Schäden, die solche Delikte anrichten können; mehr aber noch dadurch, dass Sexualität trotz aller Aufklärung nach wie vor ein Tabuthema ist, und man über 1000 Jahre religiöse (in unserem Fall christliche) Sexualmoral mit ein paar Jahrzehnten sexueller Revolution nicht ganz aus den Köpfen der Menschen bekommen hat, auch nicht bei denen, die sich eher als „liberal“ bezeichnen würden.
Da hinein spielt allerdings auch das menschliche Bedürfnis, sich von jenen, die man unter sich verordnet, abgrenzen zu wollen, und dafür eignet sich ein Sexualstraftäter ideal. Da weiß man eigentlich immer eine Mehrheit hinter sich, Sexualstraftäter haben per se keine Lobby; selbst Insassen, mit denen ich beruflich bedingt gesprochen habe, haben mir bestätigt, dass Sexualstraftäter auch im Gefängnis ganz unten in der Hackordnung stehen, insbesondere wenn die Opfer Kinder waren. Ich sehe da erstaunlich viele Parallelen mit sogenannten „SJWs“: Es geht den Menschen, die da munter mitmachen und dem Verdächtigen sofort das Recht auf Unschuldsvermutung und einen fairen Prozess absprechen, vor allem darum, sich selbst moralisch überlegen zu fühlen. Darum wird da auch bewusst nicht zwischen den Sachverhalten differenziert, soweit es die Tatdetails betrifft, der Stempel „sexueller Missbrauch“ reicht. Die Schicksale der Opfer interessieren da sogar in Wirklichkeit oft herzlich wenig, zumal die ganz unterschiedlich ausfallen können. Da kam es dann auch schon mal vor, dass ein Opfer, welches damit recht solide umging, noch von diesen Leuten angefeindet wurde, weil in deren Vorstellung alles unter einem „schweren lebenslangen Trauma“ undenkbar war, so als sei es etwas Schlechtes (!), dass eine Person, der so etwas passiert ist, keine PTBS davonträgt und relativ normal weiterleben kann (!!). Aber ein traumatisiertes Opfer eignet sich eben besser, um die eigenen Rachegelüste, den Wunsch nach einer möglichst harten Strafe für den Täter, zu rechtfertigen, obwohl es eben letztendlich oft nicht viel mehr als primitivste Gelüste sind. Es heißt ja nicht umsonst, dass öffentliche Hinrichtungen nicht deshalb abgeschafft wurden, weil das Volk so dagegen war, sondern weil es sie im Gegenteil geliebt hat, und die Veranstaltung, die den Machthabern eigentlich der Abschreckung dienen sollte, einen regelrechten Volksfestcharakter hatte.
Befeuert werden diese Tendenzen noch durch die Berichterstattung und die Medien. Ob soziale Medien oder Presse, es ist bekannt, dass stark verkürzte, prägnante Schlagzeilen größere Aufmerksamkeit bekommen als sachliche, nüchtern gehaltene Berichte. Hierbei wird – die Klatschpresse macht es vor – der Unterschied z.B. zwischen „Verdächtiger“, „Beschuldigter“, „Angeklagter“ und „Täter“ ganz bewusst klein gehalten. Die Menschen wollen immer weniger Fakten und vor allem Emotionen. Idealerweise sollte es auch ins Weltbild passen. Darum haben auch alle Medien groß über die Vorwürfe gegen Jörg Kachelmann berichtet, vor allem die BILD eine äußerst widerliche Schmierenkampagne gegen ihn gefahren; und da ist es auch egal, dass sie, nachdem er sich doch als unschuldig herausstellte, ihm eine halbe Million Euro Schmerzensgeld zahlen musste, beruflich und gesellschaftlich war der Mann erledigt. Über den Prozess gegen die Dame für die falsche Anschuldigung und die Konsequenzen für die Staatsanwaltschaft, die auch nach dem Freispruch noch Unwahrheiten verbreitete, wurde fast gar nicht mehr berichtet, damit hätte man sich ja eingestehen müssen, dass die Kampagnen gegen Kachelmann und die Vorverurteilung falsch waren, dass man Mist gebaut hatte. Und wenn es etwas gibt, was die wenigsten Menschen wirklich können, dann ist es, sich eigene Fehler einzugestehen.
Es ist schon komisch, daß bei "Mann vs Frau" der Mann erstmal Schuld hat und ein unkontrolliertes Hormonmonster ist, ist auch nur ein altes Rollenklische....welches aber insbesondere von den Feministinnen gehegt und gepflegt wird. Da haben sie auf einmal kein Interesse an der Gleichstellung....
Eine rationale Erklärung gibt es dafür schon: Dass die große Mehrzahl erwiesener Sexualdelikte tatsächlich von Männern, und in der Regel gegen Frauen begangen wird, dementsprechend werden solche Geschichten, wie oben beschrieben, tendenziell in diese und jene Schublade eingeordnet. Das ist natürlich keine Begründung für eine Beweislastumkehr, zumal die meisten Menschen, die das tun, tendenziell eher schlecht im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten sind.
Was ich an solchen Anschuldigungen wie gegen Chris Avellone immer besonders fischig finde, ist, dass die mutmaßlichen Opfer direkt ausgerechnet den Weg über Twitter gehen, und eben nicht zuerst über Polizei, Justiz oder Opferhilfen. Als Opfer mag man immer Angst haben, dass einem nicht geglaubt wird, und die ist leider zu oft berechtigter als uns lieb ist, das ist auch eine Erklärung, warum viele die Tat nicht sofort melden, sondern erst Monate oder Jahre später. Aber das ist für mich keine valide Erklärung, warum man so etwas direkt bei Twitter an die große Glocke hängen würde, anstatt den juristischen Weg zu gehen, denn das Risiko, als Lügner(in) zu erscheinen, hat man auf Twitter genauso wie bei einer polizeilichen Anzeige.