Was ich elementar anders bewerte als Scholdar ist die doch eher überhebliche Einschätzung jemand der in der Witcherwelt von Teil 3 versinkt, hat einfach die Zeichen der Welt nicht erkannt und wäre leicht zu blenden.Wohingegen offenbar eine kleine geistige Elite in der Lage ist die Open-World-Fassade zu durchschauen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Es ist keine herausragende Fähigkeit, ein Videospiel zu entmystifizieren und als bloßes Technik-Gerüst bloßzustellen.
Das war gar nicht meine Einschätzung. Man kann prima in der Welt versinken, obwohl man hinter die Fassade schaut. Gutes World Design ist dazu durchaus in der Lage. Was viele hingegen nicht sehen wollen ist der simple Fakt, dass eine offene Spielwelt nicht ohne Kompromisse bzw. Einschnitte an anderer Stelle von statten geht. Vielmehr wird Open World immer als DAS Nonplusultra dargestellt, als ob es nichts anderes geben könnte und dürfte und als ob die Freiheit des Spieler nur hier Geltung verschafft werden würde. Das ist nämlich schlicht nicht wahr. Die bisherigen Witcher Spiele (also 1 und 2) und auch die allermeisten klassischen CRPGs leben neben dem Kampfgameplay vor allem von der erzählerischen Entscheidungsvielfalt und dem damit verbundenen komplexen und oftmals moralisch schwierigem Choice & Consequence.
Das Gegenteil ist da schon schwieriger. Gerade die Literatur auf die du anspielst, ist das beste Beispiel dafür, dass Illusionen und unsere Fähigkeit uns darauf einzulassen diese Welten erschaffen.
Deiner Argumentation folgend müsstest du auch sehr enttäuscht darüber sein, dass viele Leute einfach nicht verstehen, dass es das Witcher Universum garnicht gibt, da es lediglich eine Buchreihe ist. Jemand der ein an allen Ecken und Enden unvollkommenes Werk (ist jedes Computerspiel genaugenommen) entzaubert hat eigentlich nicht die besondere Gabe der Skepsis sondern die besondere Abwesenheit von Vorstellungsvermögen.
Ja und nein. Es geht ja nicht darum, dass Fiktion Fiktion ist und nicht die Realität. Es geht um die Qualität von Fiktion und die Art und Weise, Fiktion im Bewusstsein des Konsumenten Wirklichkeit werden zu lassen. Es geht natürlich darum, die Fantasie anzuregen. Aber ein gutes Buch oder ein guter Film hat etwas zu erzählen. Ein gutes Buch oder ein guter Film hat keine Längen, keine überflüssigen Worte oder Bilder, keine Passagen, die in der Betrachtung des Gesamtwerkes nicht auf dem besten erzählerischen Niveau sind. Und das unterscheidet scheinbar Film und Literatur von Videospielen, da es hier scheinbar immer weniger darum geht, das Werk auf das Wesentliche zu beschränken, zu fokussieren, sondern möglichst lange zu beschäftigen, egal auf welchem Niveau und egal, ob es in der Retrospektive für das Gesamtwerk von Bedeutung ist oder überhaupt in Erinnerung bleibt. Meine Kritik am Open World ist also tiefergehend und zielt auch auf das Herz des Mainstream, die bewusste Entfokussierung und die bewusste Abkehr vom alten erzählerischen Prinzip, möglichst viel mit möglichst wenigen Worten zu sagen. Klar, man kann das natürlich mit Gameplayüberlegungen kontern, aber das ist genau der Trade-Off, um den es geht.
Außerdem läuft das Argument mit der fehlenden Fantasie bzw. Vorstellungskraft völlig ins Leere bzw. für die Diskussion pro und contra Open World. Vorestellungskraft brauche ich auch für ein klassischen System, das auf Hubs (also eigenen, abgetrennten Levels basiert), sogar noch viel mehr als für Open World. Wenn wir es genau nehmen, dann soll ja gerade Open World uns ein Teil des Selber-Denkens und des Selber-Vorstellens abnehmen. Statt uns Zusammenhänge in der Welt selbst vor Augen zu führen und unsere Fantasie zu bemühen, wird uns jeder Schritt - auch wenn er erzählerisch und selbst vom Gameplay her noch so belanglos ist - gnadenlos auf dem Bildschirm präsentiert (bzw. durch Schnellreisefunktionen völlig aus dem erzählerischen Fluss und Zusammenhang gerissen). DAS ist ein Testament für mangelnde Vorstellungskraft und nicht etwa, dass man versteht, wie Spiele intern ticken. Es ist ja vielmehr gerade das Problem unserer Zeit, dass immer weniger Spieler die nötige Vorstellungskraft haben, sich gewisse Dinge selbst vorzustellen und wirklich jedes Detail vorgekaut brauchen. Es ist auch ein alter, aber inhaltsleerer Vorwurf, erzählerische Kritik würde grundsätzlich auf mangelnder Vorstellungskraft beruhen. Da ist Humbug. Es ist die Pflicht bzw. die Aufgabe eines jeden Autors, der gute Geschichten erzählen will, Kontinuität zu wahren. Unsere Vorstellungskraft ist erstaunlich flexibel und wir können uns jede Menge hinbiegen. Allerdings sollten wir uns fragen, ob das eigentlich die Aufgabe unserer Fantasie ist oder ob das nicht schon ein Anzeichen dafür ist, dass der Autor Mist gebaut hat. Es ist die Aufgabe des Autors, uns durch sein Werk zu führen, uns zu leiten (bewusst und unbewusst), uns herauszufordern. Dafür gibt es viele Mittel und Wege, detaillierter oder weniger detailliert. Manchmal ist gerade das, was wir nicht erzählt bekommen, genau das Wesentliche, aber nicht durch Zufall oder zufällige Einbildung, sondern durch geschickte Lenkung. Nur ein modernes Videospiel hat hier scheinbar seine eigenen Gesetze, indem es den Spieler geradezu seiner Vorstellungskraft beraubt und ihn mit der Nase auf alles stößt. Es fehlt nur noch, dass man in Videospielen auch noch aufs Klo gehen muss, wirklich 8h schlafen muss usw. Eine gute Geschichte und damit gute Unterhaltung ist aber keine Abbildung unseres Lebens, sondern ein Ausschnitt aus interessantes Episoden. Gute Autoren (außerhalb der Spieleindustrie) wissen das. Natürlich gibt es auch Simulationen, die etwas genau abbilden wollen. Nur ist das der Kern eines Rollenspiels? Vielleicht liegt in der Beantwortung dieser Frage (die jeder für sich selbst treffen muss aber wir irgendwie auch zusammen, als aggregierter Markt) der Schlüssel zum Verständnis, wie wir eigentlich Geschichten in Videospielen erzählen sollten. Ist Witcher 3 noch ein RPG oder schon mehr ein "Walking-Simulator", wie etwa Skyrim und Co. oft (zurecht) genannt werden? Und wenn ja, ist das eine Entwicklung, die wir so ungefragt und unreflektiert bejubeln sollten? Und wo bleibt da die Vielfalt, wenn alle irgendwann nur noch das mehr oder weniger Gleiche machen wollen?
Das was die Amerikaner gerne als lore-friendly bezeichnen und bei uns manchmal mehr oder minder korrekt mit glaubwürdig wiedergegeben wird, ist der Schlüssel um Fantasywelten in sich schlüssig zu gestalten.
Die Welt von Witcher 3 ist für Videospiel wahnsinnig schlüssig und konsistent (z.B. um Lichtjahre besser als beispielsweise alles, was von Bethesda kommt). Das hat mit meiner Kritik eigentlich gar nichts zu tun.
Und die Welt ist in Anbetracht der technischen Hürden auf einem Level, dass zumindest in seiner Größe seines gleichen sucht.
Auch da stimme ich dir absolut zu. Aber Größe ist wie der allgemeine technische Level nur ein Mittel zum Zweck und kein Selbstzweck. Gute Grafik und eine große Spielwelt können ein gutes Spiel besser machen - aber sie machen kein gutes Spiel.
Abgesehen davon hat der dritte Teil viel, viel mehr hochwertigen Content als der Zweite (Haltung an die Buchvorlage ist ein emotionales Kriterium, kein rationales..trotzdem natürlich verständlich dass es dich stört).
Das Argument verstehe ich nicht ganz, es sei denn, du verstehst es als Würdigung des Preis-Leistungs-Verhältnisses. Dann magst du vielleicht recht haben, wobei du ja selbst sagst, dass man sich dieses Mehr an hochwertigem Content mit einer Vielzahl an mittelmäßigem Content erkauft. Sprich, um X Stunden mehr Spaß mit hochwertigem Content zu haben, muss ich Y mehr Stunden mit mittelmäßigem oder gar ganz langweiligem Content verbringen. Ich weiß also nicht genau, ob wir hier wirklich von einer positiven Entwicklung sprechen sollten. Sollte es nicht das Ziel sein, möglichst durchweg hochwertigen Content anzubieten und sollte unsere Bewertung eines Videospiels (wie auch jedes anderen Unterhaltungsmediums) nicht darauf basieren? Es wäre mir z.B. neu, dass man die Qualität eines Buches nach der Anzahl seiner Seiten oder einen Film nach seiner Gesamtlänge beurteilt, ganz im Gegenteil an. Es kommt darauf an, wie viel von dem, was man angeboten bekommt, auch wirklich qualitativ hochwertig ist. Und da frage ich mich: was sollten wir besser bewerten? Ein Witcher 2, in dem der Spieler vielleicht auf 30h Spielzeit kommt, von denen 20-25h wirklich hochwertige, handgefertigte Unterhaltung sind, oder ein Witcher 4, in dem der Spieler vielleicht auf 120h Spielzeit kommt, von denen 50-60h hochwertige Unterhaltung sind? Klar, Witcher 3 bietet insgesamt mehr hochwertige Unterhaltung, aber ist es dadurch besser? Ich denke nicht, weil ich schlicht keine Lust habe, meine Lebenszeit damit zu verschwenden, die restlichen 50-60h mit sinnlosem Rumlaufen, repetitiven Aufgaben, Backtracking, endlosem Inventarmanagement usw. zu verbringen. Und letztlich ist auch die Bewertung schwierig, was jetzt genau hochwertiger Content ist. Ein hoher Produktionswert ergibt noch lange keinen hochwertigen Content im Sinne von "gutem" Content. Und natürlich ist das auch subjektiv, gerade was das Erzählerische angeht. Trotzdem gibt es ein paar Regeln, die man einhalten sollte. Deshalb finde ich es auch seltsam, wenn du hier behauptest, dass eine enge Anlehnung an die Vorlage (für die man ja eine Fortsetzung sein will!!!) ein emotionales Kriterium ist. Natürlich ist das wahr, aber es ist weit mehr als das. Wenn ein Werk antritt, eine Fortsetzung zu einem vorhandenen Stoff zu sein und dabei auf Charaktere, Handlungsstränge, Beziehungen etc. zurückgreift, dann sollte dieses Werk ein Höchstmaß an Kontinuität anstreben, denn im Endeffekt ergibt sich daraus EIN Gesamtwerk für den Außenstehenden, selbst wenn es von unterschiedlichen Autoren sein sollte. Es ist eben völlig falsch, Witcher 3 als Einzelwerk zu betrachten. Für jemanden, der die Serie nicht kennt, mag das persönlich kein Problem sein. Für jeden, der die Serie kennt und für den Witcher 3 automatisch (und auch von CDPR gewollt!!!) eine Fortsetzung zu sowohl den bisherigen Spielen wie auch den Büchern ist, für den ist Kontinuität kein rein emotionales Problem - es ist vielmehr eine Grundvoraussetzung, dass die erzählerische Ebene überhaupt in irgendeiner Weise funktionieren kann.
Das Problem ist nur dass der unwichtige Belanglosigkeitsfüllcontent der dich so stört fast schon explodiert ist, und damit den wirklich einzigartigen Content verdünnt.
Wenn ich am Ende 40 statt 18 Stunden mit hochwertigen Content verbringe, macht sich dass natürlich nicht so bemerkbar, wenn ich mich manchmal je nach masochistischer Veranlagung auch 150 Std. mit repetitiven Quests langweilen darf.
DAS ist der Punkt. Und DAS ist das Hauptmanko von Open World.
Ich träume ja noch davon, dass Ubisoft mal allen belanglosen Content aus ihren Spielen streicht. Dann bliebe zwar nicht mehr allzu viel übrig, aber der Überrest wäre viel prägnanter.
Naja, würde ich so nicht sagen. Stell dir nur vor, sie würden all die Leute, die jetzt ihre Zeit mit der Erstellung von sinnlosem, mittelmäßigem Sammelcontent verschwenden, wieder an die Story und das Missionsdesign usw setzen. Aber das grundsätzliche Problem liegt eben schon am Grunddesign...
Ich persönlich fand nicht, dass es ein anderes Studio schon mal besser in diesem Maßstab gehandhabt hätte als die Warschauer.
Hat es auch keiner. Das Problem ist aber, dass es keinen "Sachzwang" zum Open World gibt, nicht im Geringsten. Sie hätten das, was sie mit Witcher 2 hatten, einfach ausbauen können. Auf die eigenen Stärken setzen (Storytelling, Choice&Consequence, Technik, Inszenierung, Missionsdesign, World Design), und einfach alles noch ein bisschen besser und umfangreicher machen. Dann wäre Witcher 3 vielleicht auch ein guter Nachfolger zu Witcher 2 geworden. So haben wir ein Spiel, das einerseits viel besser ist als das, was die Konkurrenz so anbietet, aber andererseits ein Spiel, das als Witcherspiel so eklatante Schwächen hat. Für jemanden, der kein Interesse an diesem Universum hat, ist das freilich kein Problem. Der sieht Witcher 3 als eigenständiges Werk, das praktisch konkurrenzlos im Genre ist. Für einen Hexerfan alter Schule, für den Kontinuität, Storytelling und eine hohe erzäherische und atmosphärische Dichte usw. wichtig sind, ist Witcher 3 eine Katastrophe, gerade durch den Widerspruch aus guten Anlagen neben den (imo) fast unverzeihlichen erzählerischen Schwächen und dem verschenkten Potenzial.
Die Entwickler sollen sich ja auch nicht mit unserer Fantasie messen, das können sie gar nicht, sondern mit dem was technisch umsetzbar ist. Und meiner Meinung nach scheitert CD Projekt jedenfalls nicht an der Konkurrenz (die der reale Maßstab ist), sondern an ihren eigenen Ambitionen.
Die sind oftmals ein würdiger Gegner
Das ist wahr, aber ich denke, dass da noch mehr reinspielt. CDPR ist ja nicht doof und die Entscheidung, das Spiel auch auf den Konsolen anzubieten, hat sie natürlich in eine Art selbstgewollten Zwang versetzt, noch deutlich mehr Einheiten abzusetzen. Und da "muss man" sich scheinbar an den Mainstream anbiedern. Natürlich scheitern sie an ihren eigenen Ambitionen. Aber nicht nur, weil es technisch vielleicht nicht umsetzbar wäre, sondern weil sie die Formel ihrer Spiele derart anpassen, dass sie sich gut verkaufen. Mit der Konkurrenz hat das nichts zu tun, weil die eh Lichtjahre hinterherhinkt. Mit Skyrim muss sich ein Witcher 3 nicht messen, weil es keine richtige Konkurrenz ist. Was mich so nervt, ist ja gerade, dass Witcher 3 so gute Anlagen hat und CDPR so viel Potenzial hat, Witcher 3 aber dennoch ein Spiel ist, das zum einen ein schlechter Nachfolger bzw. ein schlechtes Witcherspiel und zum anderen ein Spiel ist, das seinen Fokus verloren hat.
MfG jemand, der fundierte Meinungen anderer sehr schätzt